Die SPD am Scheideweg
Nach diesem JUSO-Kongress Ende November 2025 ist klar: Die deutsche Sozialdemokratie steht an einem kritischen Wendepunkt.
In einer Zeit multipler Krisen – von demografischem Wandel über Klimatransformation bis zur geopolitischen Zeitenwende – zeigt sich die SPD zunehmend gelähmt zwischen widerstreitenden Impulsen: dem linkspopulistischen Druck ihrer eigenen Basis, dem Anspruch auf soziale Stabilität und der nüchternen Notwendigkeit grundlegender Reformen. Diese Lähmung ist nicht nur parteipolitisch problematisch – sie gefährdet die Handlungsfähigkeit des deutschen Staates in seiner volatilsten Phase seit Jahrzehnten.
Die innere Zerreißprobe
Die Spannung innerhalb der SPD ist offenkundig. Während die Parteiführung versucht, eine tragfähige Koalition mit der Union zu gestalten, verschärft insbesondere der Juso-Flügel mit seiner linkspopulistischen Rhetorik die Frontlinien. Forderungen nach radikaler Umverteilung, Maximalforderungen in der Sozialpolitik und eine Wirtschaftsrhetorik, die ordnungspolitische Realitäten negiert, stehen im direkten Widerspruch zu dem, was eine Regierungspartei in der aktuellen Lage leisten müsste. Und die Parteivorsitzende Bärbel Bas stützt diesen Kurs weitestgehend.
Dieser innerparteiliche Konflikt wäre noch zu verkraften, würde er nicht fatale Außenwirkungen zeitigen. Denn die linkspopulistische Tonlage der Jusos und Teile der Parteibasis befeuert paradoxerweise genau jene politischen Dynamiken, die sie vorgibt zu bekämpfen: Sie treibt Teile der Union in eine Defensive, die das bisher verlässliche Bollwerk gegen die AfD – die sogenannte Brandmauer – zunehmend erodieren lässt. Wenn die Mitte sich zerfleischt, profitieren die Extreme.
Der Reformstau als Staatsgefährdung
Deutschland braucht Reformen – diese Erkenntnis ist trivial geworden. Weniger trivial ist die Einsicht, dass der derzeitige sozialstaatliche Erhaltungsmodus der SPD nicht nur ineffizient, sondern in einer VUKA-Welt (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität) staatsgefährdend ist. Ein Rentensystem, das demografische Realitäten ignoriert, ein Gesundheitswesen, das Effizienzgewinne systematisch verhindert, ein Arbeitsmarkt, der Flexibilität und Sicherheit nicht verbinden kann – all dies sind keine Nebenschauplätze, sondern Kernfragen staatlicher Zukunftsfähigkeit.
Die SPD rechtfertigt ihre Blockadehaltung mit dem Verweis auf sozialen Zusammenhalt und demokratische Stabilität. Doch diese Begründung verkehrt sich in ihr Gegenteil: Gerade die Weigerung, notwendige Anpassungen vorzunehmen, untergräbt das Vertrauen in die Demokratie, verschärft generationelle Konflikte und schafft jene Abstiegsängste, die populistische Bewegungen nähren. Stabilität durch Stillstand ist in Zeiten fundamentaler Transformation eine Illusion.
Der massive Reformstau schwächt die staatliche Handlungsfähigkeit systematisch: Investitionsstaus in Infrastruktur, Bildung und Digitalisierung, eine Wirtschaftspolitik ohne klare Wachstumsstrategie, eine Energiepolitik zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Die SPD trägt hier eine besondere Verantwortung, nicht weil sie allein regiert, sondern weil sie als sozialdemokratische Kraft den Anspruch erhebt, soziale Gerechtigkeit mit Modernisierung zu verbinden – und genau daran scheitert sie derzeit.
Die staatspolitische Verantwortung
Die politische Landschaft ist fragmentiert, die AfD erzielt besorgniserregende Wahlerfolge, gesellschaftliche Spaltungen vertiefen sich. In dieser Situation braucht es eine kritische Auseinandersetzung mit den Handlungsmustern aller demokratischen Kräfte. Die Sozialdemokratie ist, trotz aller Schwächen, ein unverzichtbarer Pfeiler der demokratischen Mitte. Ihre Erosion würde das politische System weiter destabilisieren.
Genau deshalb stellt sich die Frage nach ihrer staatspolitischen Verantwortung mit besonderer Dringlichkeit. Als Regierungspartei trägt sie Mitverantwortung für das Funktionieren des Staates – nicht nur für die Interessen ihrer Kernklientel.
Staatspolitische Verantwortung würde bedeuten, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen: dass Sozialleistungen ohne wirtschaftliche Grundlage nicht finanzierbar sind, dass Generationengerechtigkeit auch Verzicht der heutigen Generation bedeuten kann, dass ökologische Transformation und soziale Gerechtigkeit zwar vereinbar, aber nicht kostenlos zu haben sind.
Wege aus der Krise: Sozialdemokratie neu denken
Wie könnte die SPD ihren Auftrag authentisch wahrnehmen, ohne in Reformstarre zu verfallen? Die Debatte darüber sollte die Sozialdemokratie selbst führen, doch drei Perspektiven drängen sich auf:
Erstens: Ehrlichkeit statt Beschwichtigung. Eine Sozialdemokratie, die Reformnotwendigkeiten verschleiert, verspielt Vertrauen. Wer soziale Gerechtigkeit ernst nimmt, müsste offen kommunizieren, dass der status quo nicht gerecht ist – weder gegenüber jungen Generationen noch gegenüber jenen, die im derzeitigen System durchs Raster fallen. Ehrlichkeit schafft Vertrauen, auch wenn sie kurzfristig schmerzt.
Zweitens: Investive Sozialdemokratie. Der klassische Sozialstaat verwaltet Transfers, eine moderne Sozialdemokratie würde investieren – in Bildung, Weiterbildung, Infrastruktur, Zukunftstechnologien. Das bedeutet eine Verschiebung von konsumtiven zu investiven Staatsausgaben, von Bestandsschutz zu Befähigung. Diese Neuausrichtung würde sowohl ökonomisch als auch sozial Sinn ergeben.
Drittens: Koalitionsfähigkeit als Tugend. In fragmentierten Parteiensystemen ist Kompromissfähigkeit keine Schwäche, sondern demokratische Kernkompetenz. Regierungsverantwortung bedeutet, Koalitionspartner nicht als Feinde, sondern als notwendige Partner zu begreifen. Das setzt voraus, dass linkspopulistische Maximalpositionen als das benannt werden, was sie sind: regierungsunfähig.
Die Brandmauer muss halten
Die größte Verantwortung aller demokratischen Parteien liegt darin, die Brandmauer gegen extremistische Kräfte zu erhalten. Die Union hat ihre Verantwortung zur Bekämpfung der AfD im Hier und Jetzt bereits anerkannt und stellt sich dieser Aufgabe. Nun ist die SPD gefordert, dies durch staatstragendes Reden und Handeln ebenfalls unter Beweis zu stellen.
Wenn die SPD die Union dämonisiert, öffnet sie der AfD Tür und Tor. Die linkspopulistische Rhetorik aus Teilen der SPD bewegt die Union nicht nach links, sondern treibt Teile der Union in eine Defensive, die gefährliche Tabubrüche nach rechts begünstigt. Diese Dynamik ist hochgefährlich: Indem die SPD ihren Koalitionspartner delegitimiert, schwächt sie nicht nur die Regierungsfähigkeit, sondern destabilisiert die demokratische Mitte insgesamt. Nur eine geschlossen auftretende Mitte kann extremistische Ränder marginalisieren – dafür braucht es jetzt ein klares Bekenntnis der SPD zur Zusammenarbeit in der demokratischen Mitte.
Fazit: Die SPD zwischen Erbe und Zukunft
Die deutsche Sozialdemokratie steht vor einer existenziellen Frage: Wird sie zur Verwalterin eines überholten Sozialstaatsmodells oder zur Gestalterin einer modernen, zukunftsfähigen Gesellschaft? Die Geschichte zeigt, dass Sozialdemokratie dann erfolgreich war, wenn sie Reformen wagte – von Willy Brandts Ostpolitik über Helmut Schmidts Krisenmanagement bis zu Gerhard Schröders Agenda 2010, so umstritten diese im Einzelnen waren.
Die aktuelle Situation erfordert Mut: den Mut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, den innerparteilichen Konflikt nicht zu scheuen, die Koalition nicht als Belastung, sondern als Chance zu begreifen. Und vor allem die Bereitschaft zu akzeptieren, dass staatspolitische Verantwortung manchmal bedeutet, schwierige Entscheidungen zu treffen – wenn dies dem Wohl des Ganzen dient.
Deutschland braucht eine handlungsfähige Sozialdemokratie. Nicht als Bremsklotz, sondern als Motor notwendiger Reformen. Nicht als Verwalter von Besitzständen, sondern als Anwalt einer gerechten Zukunft.
Die Frage, ob die SPD bereit ist, diese Rolle anzunehmen, kann nur die Partei selbst beantworten. Die demokratische Mitte insgesamt – und damit auch die Union – hat jedoch ein vitales Interesse daran, dass diese Antwort positiv ausfällt. Die Zeit für staatstragendes Handeln ist jetzt.